Kommunikationsraum
Das Senckenberg Museum für Naturkunde Görlitz schrumpft seine Besucher virtuell per Virtual Reality auf die Größe einer Assel.

Virtual Reality im Museum: Dem Boden so nah

Wie fühlt es sich an, den Lebensraum von Weißwürmern und Hornmilben zu betreten? Das können Besucher des Senckenberg Museums für Naturkunde in Görlitz mithilfe einer Virtual-Reality-Brille ausprobieren. Die Kultureinrichtung nimmt am bundesweiten Projekt museum4punkt0 mit dem Thema „Forschung in Museen erklären, verstehen, mitmachen“ teil. KommunikationsRaum.-Autorin Andrea Mende bekam die Möglichkeit, die VR-Anwendung selbst zu testen.

Virtual Reality
Die Tiere des Porenraumes sind in etwa 200-facher Vergrößerung dargestellt, der Träger der VR-Brille ist dort etwa 1 cm groß.

Mit Aufsetzen der Virtual-Reality-Brille geht es direkt los. Die wirkliche Umgebung verschwindet und wird durch eine künstliche Realität ersetzt, die einen per 360-Grad-Animation ab dem ersten Moment komplett einnimmt. Es gibt keinerlei Übergänge, der Wechsel ist direkt und fühlt sich sofort so echt an, dass die vorherigen Bilder auf Anhieb verblassen – das Zimmermit seiner Einrichtung, die technischen Geräte, andere Personen sind vergessen. Auch die gewohnten Orientierungspunkte wie Wände, Türen oder Fenster, die sonst helfen, sich räumlich ins Verhältnis zu setzen, verschwinden. Stattdessen findet man sich inmitten zahlreich verzweigter Gänge wieder, es ist dunkel und die erdigen Strukturen, die zu sehen sind, sind ungewohnt, vergleichbar mit einer verwinkelten Höhle – nur dass sich dieser Ort auf einem für Menschen völlig fremden Niveau befindet. Was hier dargestellt wird, ist ein Porenraum des Bodens, in dem sich Tiere wie Springschwänze und Hornmilben aufhalten, die in Natura etwa zwischen 0,7 und 0,8 mm groß sind. Weißwürmer, Verwandte des Regenwurmes, erscheinen als riesige Schlangen, und ein Tausendfüßler, der sich plötzlich um die Ecke windet und kurz seine imposanten Kauwerkzeuge offenbart, beeindruckt gewaltig. Und das, obwohl er normalerweise nur auf etwa 4 cm Größe kommt. Doch hier, in der Welt der Virtual Reality, ist er der Räuber – und wer sich per VR-Brille in sein Reich beamt, ist ihm mit nur 1 cm körperlich auf jeden Fall unterlegen.

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Virtual Reality – ein Selbstversuch

Dr. Jens Wesenberg vom Senckenberg Museum für Naturkunde Görlitz hat mich in die Technik eingewiesen und erklärt, wie ich mich innerhalb dieses unbekannten Terrains bewegen kann. Seine Stimme nehme ich wahr, für den Anfang vermittelt das Sicherheit, bis ich mich langsam an den Porenraum gewöhne und ebenso an die Vorstellung, zeitweise in den Körper einer Assel geschlüpft zu sein. Der Controller in meiner Hand ist vergleichbar mit einer simplen Fernbedienung. Er dient mir als Taschenlampe und bringt Licht dorthin, wo ich hinleuchte.

Andrea Mende beim Ausprobieren der VR-Anwendung im Senckenberg Museum
KommunikationsRaum.-Autorin Andrea Mende beim Ausprobieren der VR-Anwendung im Senckenberg Museum für Naturkunde Görlitz.

Per Knopfdruck kann ich an einen anderen Ort springen, was mir durch einen grünen Bogen angezeigt wird. Immer wieder verändert sich die Szenografie, felsenähnliche Formationen tauchen unmittelbar vor mir auf, so dass ich sofort ausweichen will, und als ich auf einmal neben einem Abgrund stehe, komme ich leicht ins Schwanken. Aber das Interesse an den vielen, herumwandernden Tieren ist einfach zu groß, als dass mich das alles von ihnen ablenken könnte. Die Zeit geht gefühlt unglaublich schnell herum, ein Durchgang im offiziellen Betrieb dauert etwa fünf bis sieben Minuten. Mein Fazit: Virtual Reality kann mehr, als ich mir vorstellen konnte. Doch was kann es im Museum?

Der Monitor überträgt die Szenografie im Kleinformat
Über die VR-Brille sieht der Tausendfüßler riesig aus, der Monitor überträgt die Szenografie im Kleinformat. Zusätzlich wird unten rechts eine Karte abgebildet.

Wissen digital vermitteln

Prof. Dr. Willi Xylander ist Direktor des Senckenberg Museums für Naturkunde Görlitz. Er erklärt, dass die teilnehmenden Museen des Projekts museum4punkt0 unterschiedliche Wege verfolgen, was die Entwicklung von digitalen Strategien wie Virtual- und Augmented-Reality-Formate betrifft. Einigen Einrichtungen geht es mehr um die Dokumentation von Sammlungen, anderen um das Generieren virtueller Museumsrundgänge. „Bei uns in Görlitz geht es besonders um die Ausstellung und Vermittlung in Bezug auf unsere Forschungsarbeit, zum anderen wollen wir partizipative Formate einsetzen und Bürgerwissenschaftler stärker einbinden“, sagt er. Damit sollen den Bürgerinnen und Bürgern Tiere und Pflanzen nähergebracht und die Menschen dazu angeregt werden, an deren Erforschung aktiv mitzuwirken.

Senckenberg Museum für Naturkunde Görlitz
Das Senckenberg Museum für Naturkunde Görlitz gehört zu einer von sechs Kultureinrichtungen bundesweit, die an dem dreijährigen Projekt museum4punkt0 teilnehmen, um neue digitale Strategien mithilfe von Virtual und Augmented Reality zu entwickeln.

Im Fokus der innovativen Vermittlungsangebote liegen aber die virtuellen Realitäten. Jedoch nicht um jeden Preis. „Die VR-Anwendung muss kontextualisiert sein, muss in Relation zum Objekt, also zur wirklichen Natur stehen“, so Prof. Xylander. „Denn es geht nicht um VR an sich; der Einsatz muss einen Mehrwert darstellen. Die neue Technik ermöglicht es, Lebensräume geradezu körperlich zu erleben, die man sonst nicht betreten könnte, weil sie nicht mehr existieren – Stichwort Dinosaurier – oder weil sie für uns nicht erreichbar sind, beispielsweise die Tiefsee, die Baumkronen der Regenwälder oder auch der Porenraum des Bodens. Wir in Görlitz haben uns bei der Darstellung des virtuellen Raumes zunächst auf das Leben im Boden konzentriert, denn hier liegt der Schwerpunkt unserer Forschung.“ Einen emotionalen Zugang zu diesen Themen zu schaffen, ist dem Museumsdirektor wichtig, um der Öffentlichkeit nicht nur die Biodiversität der Lebensräume zu vermitteln, sondern auch für deren Schutz zu sensibilisieren. Schließlich können die neuen Formate die Relevanz der wissenschaftlichen Arbeit aufzeigen, die Museen leisten.

Virtual Reality
Zwei Sensoren erfassen die Position des VR-Brillenträgers im Raum und übertragen die Information an das vr-terminal. Die VR-Medienstation beinhaltet einen Rechner mit Touchscreen.

Umsetzung in der Praxis

Seit November 2017 verfügt das Senckenberg Museum für Naturkunde Görlitz über seine VR-Anwendung und zeigt sie als Wanderausstellung deutschlandweit. In den Winterferien 2018 etwa hat diese in Görlitz über 2.000 Besucher angelockt. Parallel dazu lief eine Fragebogenaktion, deren Auswertung zurzeit noch nicht abgeschlossen ist. Doch als erstes Ergebnis lässt sich bereits feststellen: 95% der Befragten waren begeistert.

Dabei findet aber keine spezifische Anpassung der Ausstellungsgestaltung an die VR-Darstellung des Porenraums statt. Im Rahmen der Wanderausstellung kommt vielmehr eine Art „Bodenkino“ zum Einsatz, d. h., hier werden die vorhandenen Strukturen des jeweiligen Ausstellungshauses genutzt und die VR-Darstellung des Porenraumes dort integriert. In Görlitz hingegen wurde die VR-Anwendung ohne das Umfeld der Wanderausstellung und ohne Bodenkino in einem separaten Raum gezeigt – und zwar außerhalb der eigentlichen Ausstellung. Beiden Szenarien gleich ist aber das technische Setup: Zwei Sensoren erfassen die Position der VR-Brille und ihres Trägers und geben die Informationen an den Rechner weiter. Zusätzlich ist ein Monitor aufgestellt, der zuschauenden Personen zeigt, was der Träger der Brille aktuell sieht. So bleibt das Erlebnis des Testenden nicht exklusiv. Das ist besonders bei Kindergruppen sinnvoll, um bei Wartezeiten der Langeweile vorzubeugen. Diese Maßnahme besitzt noch einen weiteren Vorteil: Der Betreuer erklärt dem ersten Teilnehmer die Technik, alle anderen hören zu und sind auf das Kommende vorbereitet.

Wie entsteht ein authentisches Abbild?

Den Porenraum so wirklichkeitstreu wie möglich zu gestalten, bedeutete eine Herausforderung sowohl für die Wissenschaftler des Museums als auch für die Entwickler der Firma .hapto aus Köln, die mit der Umsetzung des VR-Projekts beauftragt wurde. Wie bewegt sich ein Tier, wie lässt sich dieser Ablauf so genau wie möglich darstellen? Und wie sieht das Umfeld im Detail aus, in dem es lebt? „Das erste Grundsetting stand nach zwei Monaten“, so Dr. Jens Wesenberg. Es wurde stetig optimiert, aktuell liegt das zehnte Update vor. Lutz Westermann von .hapto beschreibt die Vorgehensweise: „Für die Entwicklung der 3D-Modelle und der Animationen kam hauptsächlich Cinema4D zum Einsatz. Die VR-Anwendung selbst wird mit der Game- Engine Unity3D umgesetzt. Technisch wollten wir mit Room-Scale-VR von HTC-Vive erreichen, dass der Besucher möglichst frei und eigenständig in der Umgebung auf Entdeckungstour gehen kann. Um es nicht zu kompliziert zu machen, stehen dem Besucher drei Funktionen zur Verfügung: eine Taschenlampe, eine holographische 3D-Karte und eine Möglichkeit, sich zu teleportieren. Über einen Touchscreen kann der Besucher vom Operator aber auch auf vorgegebene Positionen versetzt werden. Andere können auf einem zusätzlichen Monitor mitverfolgen, was der Besucher in der VR gerade sieht. Auf einer kleinen Karte werden auch die Position sowie die Blickrichtung des Nutzers erkennbar.“

Virtual Reality Erlebnisreise in den Porenraum des Bodens
Nach einer kurzen Einführung kann die Erlebnisreise in den Porenraum des Bodens direkt
losgehen.

Herausforderungen im Betrieb

Das Erlebnis mit der Virtual-Reality-Brille erfordert einen ständigen Betreuer vor Ort, der die Technik erklärt, eventuell durch die Anwendung führt und die Brille nach Gebrauch desinfiziert. „Das alles kostet Geld, etwa 12 bis 25 Euro pro Stunde reine Personalkosten“, sagt Prof. Xylander. In den Winterferien waren die Geräte bis zu acht Stunden täglich im Einsatz, mit vier bis fünf wechselnden Betreuern. Diese Situation war aber eine Ausnahme. „In der Zukunft werden wir die Nutzung überwiegend zu Zeiten anbieten, in denen das Besucheraufkommen sehr hoch ist. Museen können für die Nutzung der VR eine Gebühr nehmen, doch wir möchten dies derzeit als kostenlosen Service für unsere BesucherInnen anbieten. Aber auch die laufenden Kosten wie Strom, Reinigung, Heizung sind hoch. Hinzu kommen Verschleiß, Wartung und Updates der VR“, weist Prof. Xylander hin.

Pläne für die Zukunft

Neben der Darstellung von Lebensräumen verfolgt das Senckenberg Museum für Naturkunde Görlitz noch zwei weitere Ziele: das Erlebbarmachen der ungeheuren Vielfalt wissenschaftlicher Sammlungen und ihrer Bedeutung sowie die Vermittlung von Informationen durch Wissenschaftler. „Auch jeder Wissenschaftler ist ein Original. Die Authentizität der Begeisterung für die eigene Forschung ist kaum anders zu transportieren als mit der persönlichen Begegnung“, sagt Prof. Dr. Willi Xylander. Aber die Wissenschaftler können sich nicht unentwegt Bürgerfragen stellen, ihre Arbeit jedoch könnten sie in Virtual- oder Augmented-Reality-Formaten plastisch zeigen. So könnte man Hologramme der Wissenschaftler einsetzen und sie in den Ausstellungen virtuell sprechen lassen, doch die Ergebnisse dieser Formate sind 2018 noch nicht überzeugend genug für die Umsetzung im Museum. Aber museum- 4punkt0 läuft ja bis 2020. Zeit genug also, weitere Anwendungen zur Einsatzreife zu entwickeln und die Herausforderungen zu lösen.

Autorin: Andrea Mende

Virtual Reality
Ein Knopfdruck auf den Controller in der Hand, und schon springt der Anwender von einem Punkt zum anderen. Der grüne Bogen zeigt die Bewegung an.

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Daten & Fakten

Hardware:

  • VR-Medienstation „vr-terminal“ von .hapto
  • HTC Vive VR-Set mit VR-Brille, Controller und Rechner, Bedienung per Touchscreen über einen 22″ Multibittouchscreen

VR-System:

  • Vive Business Edition VR-System
  • 3D-Audio über Headset an Brille

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Web-Links

 

 

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